Warum überall hinpissen (auch) ein Problem des Patriachats ist  

Kürzlich wurde von einem 20-Jährigen in ein Gespräch über Karneval geäußert, dass sich die Bewohner*Innen der Innenstadt nicht beschweren sollten, wenn während der Feierlichkeiten vor ihrer Haustür uriniert wird.

Grundsätzlich stimme ich zu, dass man die örtlichen Besonderheiten bei seinem Wohnort akzeptieren sollte. In der Innenstadt ist es lauter und dreckiger, im Randbezirk fährt kaum ein Bus. Sich für eine Verbesserung der Umstände einzusetzen ist nicht verwerflich, wenn es nicht zu einer Gentrifizierung und Raub der Viertelseele geht – aber das soll hier, diesmal, nicht das Thema sein.

Nein, Leute mit Penis dürfen nicht überall hinpissen. Meinen Müll trage ich bei mir bis zum nächsten Mülleimer, Zigaretten kommen in den Taschenascher, direkt am Ende der Rolltreppe bleibt man nicht stehen – einfache Dinge, die nicht nur jahrzehnterlanger Konsens von Höflichkeit und Rücksichtnahme sind, ob in den Verordnungen der Stadt oder in Memes auf Reddit – es scheint im Großen und Ganzen akzeptiert, dass das ein erstrebsames Benehmen ist.

Die Anspruchshaltung: „Es ist eine ausgelassene Stimmung, ich geh mal rücksichtlos meinem Bedürfnis nach“ schmeckt für mich sehr nach Männern, die der Meinung sind ein Recht auf Partnerschaft oder Sexualität zu haben. Nein.

Die Hälfte der Menschheit (plus die sogenannten schüchternen Blasen) kann sich zusammenreißen und eine Toilette oder zumindest einen abgelegenen Busch aufsuchen. Wieso nehmt ihr euch das Recht heraus, Hauseingänge oder direkte Orte, an dem sich alle aufhalten, mit euren Exkrementen zu verunreinigen?

Es ist unhygienisch, es stinkt. Alle feiern, da kann man mal, alkoholisiert oder nicht, stolpern. Oder muss sich kurz mal setzen, vielleicht in einen Hauseingang mit Stufe. Und da ist eure Pisse, weil die paar Schritte weiter um die Ecke zu viel sind. Weil ihr echte Männer seid, deren Arme stark aber deren Beine, Blase, Geist und Gemeinsinn schwach sind.

Und wisst ihr, warum ihr es noch tut? Weil ihr euch nicht vor Übergriffen fürchten müsst.

Ihr könnt überall euren Penis herausholen und das Bächlein laufen lassen – weil keine Gruppen von großen, kräftigen, betrunkenen Frauen johlt, das Handy für Videos zückt, zum Grapschen vorbeikommt bevor ihr fertig seid. Weil ihr nicht jeden Tag mitbekommt, wie Frauen Männer vergewaltigen und töten. Weil Frauen eure freilegenden Geschlechtsorgane nicht als Einladung verstehen, euch sexuell zu traumatisieren.
Weil die Frauen, die an euch vorbeikommen, es ignorieren – und nicht die nächsten zwei Wochen allen erzählen werden, wie eklig ihr seid, dass man mit so einem Mann ja nicht schlafen kann – wie unmännlich, wie widerlich, einfach so pinkeln. Das wird nicht passieren. Keine Frau wird euren Lösungsvorgang sexualisieren.

Ich war, vor allem in meiner Teenagerzeit, sehr neidisch auf das Privileg des männlichen Wildpinkelns. Die Jungs konnten von der Parkbank aufstehen, sich drehen und in den Busch daneben pissen, während das gemeinsame Gespräch nahtlos weitergeführt wurde. Es war einfach nichts Besonderes, es war einfach so.

Dass es nicht nur die körperlichen, sondern auch die gesellschaftlichen Unterschiede von Männern und Frauen sind, die mich zum Einhalten und damit verbundenen Blasenentzündungen und Nierenproblemen gezwungen haben, ging mir erst später so richtig auf.

Frauen lernen, es sich zu verkneifen. Die angeblich schwachen, viel zu emotionalen Frauen – und doch haben wir mehr Kontrolle über unsere Ausscheidungen. Und als gelten strengere Regeln in Bezug auf Sauberkeit für uns, als für das starke Geschlecht.

Sei einfach nett, piss in den Busch, wenn du kein Klo findest. Und halte, mit dem Kopf zur Straße, deine Jacke als Sichtschutz für deine pinkelnde Freundin.

Freundlich, Frauenfeindlich, Freud’sch – Mein Gutachtertermin

Da ich seit 3 Jahren aus dem Job raus bin, weil man mit Panikanfällen und Depressionen nicht so gut arbeiten kann, hatte ich nun meinen ersten Gutachter Termin. Die Ämter und Rentenversicherung wollen gucken, ob und was ich noch kann für den kapitalistischen Traum.

Der Brief mit der Einladung kommt Dienstag an – Samstag morgens um 9:00h von der Groß- in die Kleinstadt zum Gutachterraum. Warum ein Samstag, warum nicht in der Nähe, warum nicht mit der üblichen Woche Vorlaufzeit – das sind Fragen, die man sich wahrscheinlich nicht nur als Autistin stellt, aber je länger man sich mit Behörden und Ämtern herumärgert, desto mehr merkt man, dass Fragen vielleicht berechtigt sind – aber völlig unerheblich.

Also werde ich von einem grauhaarigen Mann um die 1,70m begrüßt und in einem, mit allerlei freundlichem Nippes ausstaffierten Praxisraum platziert.

Man würde ihn wohl als offen, freundlich, zugewandt aber nicht „drüber“ beschreiben. Teile des Gesprächs werden, stückchenweise, von ihm auf das Diktiergerät gesprochen, andere Teile nicht.

Ein von ihm gesetzter, nicht unüblich ausgewählter Faden zieht sich durch den Termin – ich bin 1,90m groß, er ist ein eher kleiner Mann. Er hatte eine Studienkollegin, die extrem groß gewachsen war, ihn aber nicht auf Grund seiner Hotness daten wollte, sondern auf Grund seines Intellekts, auf den sie während des gemeinsamen Studiums aufmerksam geworden war.
Solche und andere Geschichten kenne ich gut. Sie werden gerne als bindungsförderndes Element genutzt, vor allem von Menschen, die auf den ersten Blick meinen, wenig mit mir anfangen zu können – aber die Größe ist ein offensichtliches, einfaches Thema. Und gleichzeitig, verwundert es mich, dass es für viele durchschnittlich gewachsene Menschen so emotional besetzt ist. Der Griff in die Anekdotenkiste „große Frauen meines Lebens“ erfolgt meist schnell im Kontakt mit Männern, die sich als zu klein empfinden. Das ist oft gar nicht so eng mit der tatsächlichen Körpergröße verknüpft, wie man denken würde.

Zwischen seinen Erzählungen aus der Studienzeit gehen wir meine Biografie durch, meinen Tagesablauf, meine Krankengeschichte, meine Familie. Ich berichtige ihn mehrfach bei seltsamen Dingen, von denen sich mir nicht erschließt, wie er darauf kommen kann. Meine Mutter hat immer gearbeitet und war nie „nur“ Hausfrau, ich war nie auf einer Sonderschule oder auffällig entwicklungsverzögert. Ich frage mich, was noch in den Akten steht, die er hat. Wer das geschrieben hat. Welche Entscheidungen bereits ohne mein Wissen auf Grund dessen gefallen sind.

Ein weiteres, wiederkehrendes Thema ist, dass ich keine Kinder will. Ich erkläre, dass ich zwei Stiefsöhne habe und das reicht. Dass ich mit meiner Krankheit wie sie sich darstellt und auswirkt, einem Kind nicht gewachsen wäre, es nicht versorgen könnte, wie es versorgt werden sollte, dass ich das auch genetisch nicht weitergeben möchte. Ich erkläre mich – weil er ein psychologisch geschulter Gutachter ist? Oder weil es immer so ist, eine gesellschaftliche Norm, ein repetitives Schauspiel: Ein Mensch – der gesellschaftlich über mir steht – ein älterer Mann, in einer Machtposition. Der eindeutig der Meinung ist, dass das nicht normal ist, nicht gesund, dass sich das ändern wird und sollte. Wenn ich nur die richtige Therapie gefunden habe. Sagt er.

Ich will ja nicht die große Feministin raushängen lassen, aber da fuck ?! Ich bin eine 33 Jährige Frau mit „starkem Karriereweg bis zum Einbruch“, wie er sagt – wieso wird mir die Kompetenz abgesprochen zu entscheiden, ob ich Kinder in die Welt setzen möchte? Das ist kein Phänomen von Leuten, die über meine Krankheiten und Behinderung Bescheid wissen. So gehen auch Menschen mit mir und anderen weiblich gelesenen Personen um, wenn sie davon ausgehen, dass wir kompetent und sorgenfrei sind. Ich kann Beziehungen führen, Auto fahren, Firmen gründen, auswandern, mich von Kopf bis Fuß grün tätowieren lassen – aber kinderlos sein ist eine Entscheidung, die ich nicht treffen sollte und kann. Gut, dass mir ein Mann, der mich 1 Stunde und 20 Minuten meines Lebens kennt und begleitet, das erklärt.

Die kleine Freud-Puppe im Regal scheint nicht nur ein nett gemeintes Geschenk eines Nachbarn gewesen zu sein, sondern ein bedachter Kauf, um einen Verweis auf die Aktualität seines Studienstands zu schaffen. Dieser Verdacht drängt sich mir zumindest auf, als er referiert, dass ich durch meinen abwesenden Vater nun einen Partner mit größerem Altersunterschied habe.

Boah, wie ermüdend. Das hätte mir das Psycho-Quiz einer beliebigen Frauenzeitschrift sicher auch gesagt. Das andere Faktoren (ich bin langweilig, er wild, Zufall, *beliebige 10-stellige Zahl von Gründen für Liebe und funktionierende Zwischenmenschliche Beziehungen bitte hier einsetzen*) eine Rolle spielen, dass es Korrelation und Kausalität gibt – egal. Alles Ausreden eines kleinen Mädchens, das keinen Daddy hatte. Bah ist mir schlecht. Es ist nicht nur, dass ich mich mit meinen Gefühlen und der von mir erlebten Realität nicht gesehen fühle – es wertet unsere Beziehung ab. Aber dazu schreibe ich mal einen eigenen Text.

Und dann ist da ja noch der Autismus. Ich erkläre ihm kurz, dass ich im noch Diagnoseprozess bei zwei Stellen bin, und bisher immer die Rückmeldung erhielt, sehr auffällig eindeutig Autismus zu haben. Nach etwas Recherche kam es mir wie der heilige Gral vor: Endlich wusste ich, was los war – endlich machte alles einen Sinn.

Der Gutachter sieht das anders. Und schon bin ich im gleichen Film, wie Millionen andere, autistische Menschen, vor allem denen, die eher unauffällig sind – oder Frauen. Es gibt zig Geschichten in Onlineforen zu dem, was sich nun abspielt: Die erste Phase ist das anekdotische Wissen. Ich erspare unnötige Details: Ein autistischer junger Mann hat wegen zu heißem Kaffee seine Jalousien während eines Termins zerstört. So sei ich ja nicht.

Ich habe mal ein langweiliges Buch von Stephen King gelesen. Und ich kannte mal einen drogendealenden Footballspieler mit Yorkshire-Terrier. Beides ist aber weder repräsentativ für weltweite Literatur noch für Drogendealer. Für eine Einordnung meines psychologischen Zustandes auf dem Niveau kann ich eine akkuratere Einschätzung von meiner örtlichen Bäckereifachverkäuferin erwarten, mit der die Gespräche nicht so in die Tiefe gingen.

Ja, ich kann sprechen. Ich kann vieles, was andere Autisten nicht können – und umgekehrt. Darum sagt man auch Autismus-Spektrums-Störung. Weil es ein Spektrum ist. Mein Spezialinteressen sind nicht Telefonbücher, ich mag keine Zahlen. Ich habe gelernt, Menschen möglichst viel anzuschauen. Ich habe gelernt, unauffällig zu stimmen. Ich kann an einem guten Tag sehr gut masken. Ich bin leider nicht Rainman – und entspreche damit nicht den 2% Savants bei Autisten, die die öffentliche Bildung eines Prototyps so stark beeinflussen. Für so etwas gibt es Genderstudies. Damit ich ein passendes Hüftgelenk bekomme und auf Grund von Daten analysiert, diagnostiziert und behandelt werde, die auch mit Frauen und nicht ausschließlich mit Männern erhoben wurden.

Und trotz all dem – es war ein guter Termin. Zumindest im Ablauf – was am Ende im Gutachten steht, bleibt abzuwarten.

Es war ein guter Termin. Auch wenn ein alter, weißer Mann in Machtposition in 1,5 Stunden einer jüngeren, suizidalen, mittellosen, geistig behinderten Frau erzählt, dass sie attraktiv ist, er eine ähnliche Freundin hatte, dass noch Hoffnung für ihn besteht, wenn ihr derzeitiger Partner auch kleiner ist als sie, dass ein Ablehnen der Fortpflanzung nicht normal ist und sie einen Daddy-Komplex hat und das der Grundstein, für ihre derzeitige, bald von Hochzeit gekrönter Beziehung ist.

Trotzdem war es ein guter, im Vergleich angenehmer und lockerer Termin. In was für einer scheiß Welt leben wir eigentlich?

Sport ist Mord – von Idealen, Moral, Geld, Gesundheit und Wohlbefinden.

Ich habe noch nie einen Zugang zu sportlichen Betätigungen gehabt. Das Gefühl völlig verschwitzt, erschöpft und zufrieden nach Bewegung zu sein ist mir zwar nicht fremd, aber für dieses High-Gefühl, von dem so begeistert gesprochen wird, haben der Sport oder meine chemischen Botenstoffe im Gehirn nie gereicht.

Den Sinn hinter einer sich im Rahmen bewegenden Fitness hat sich mir zwar erschlossen, aber ich bin da einfach nicht so der Typ. Ich war auch nie ein großer Freund von der Übertragung sportlicher Events – klar habe ich ein paar Super Bowls, Fußballweltmeisterschaften, Basketballspiele, Kickboxen, Polo oder Eishockey gesehen und kann mich meist begeistern und mitfiebern, wenn es von mir erwartet wird, aber das Herz war nie richtig dabei. Vielleicht fällt es mir deswegen leichter, die Dinge so zu sehen.

Wie zu sehen? Kommerzieller Leistungssport ist Mist. Wer über Influencer, Rockstars mit Playback und Prostituierte eine Meinung hat (keine gute), der sollte sich auch von organisiertem Sport fernhalten. Aber warum?
Wo soll ich anfangen?

Wir haben einen Stand im Leistungssport erreicht, der so weit von einem normalen Leben entfernt ist, so künstlich und unnatürlich geworden ist, dass man es mit wachen Augen komm noch ertragen kann.

Derzeit erleben wir, wie global und disziplinenübergreifend Männer und Frauen von strukturellem, körperlichen und sexuellen, Missbrauch berichten. Pferde im Renn- und Dressursport sterben reihenweise viel zu jung und plötzlich, Weidehaltung ist bei Hochleistungspferden nicht üblich. Rennhunde werden saisonal entsorgt. Footballer zerstören ihre Gehirne nachweislich und unwiederbringlich, bevor sie sich oder ihre Familien töten. Wie Sportlerinnen Strafen zahlen, weil sie nicht in Bikinimode Wettkämpfe bestreiten möchten. Wie Sportlerinnen von Wettkämpfen ausgeschlossen werden, weil ihre Frisuren nicht feminin genug sind.

Der Missbrauch im Sport hat eine lange Tradition – Prostitution von Ballerinas ist da nicht das einzige, aber schon recht widerlich und gut dokumentiert (Ich habe lange überlegt, Referenzen für all diese „Behauptungen einzufügen – aber es wären einfach zu viele. Und mit der üblichen Suche mit, im Zweifel englischen, Schlagworten wird sich jeder Internetnutzer schnell ein Bild verschaffen können).

Der professionelle Fußball ist ein völlig entfesselter Markt, indem nicht nur Gehälter und Transferzahlungen, sondern auch Ticketpreise und Bedingungen für die Spiele (Katar, Brasilien) jede sinnvolle und moralische Grenze überschreiten.

Trotzdem die Arbeitsbedingungen seit Jahrzehnten bekannt sind, werden offizielle Merchandise Artikel von Sportvereinen, -Events und -Verbänden noch immer unter schlechtesten Umständen für Umwelt und Arbeiter produziert.

Es darf auch nicht vergessen werden, dass hochdotierte Sportarten wie Fußball in Deutschland oder Football in den USA losgelöst von anderen Sportarten zu betrachten, in denen die Zuschauerzahlen und geflossene Gelder deutlich geringer sind. Wie kann es sein, dass ein Olympiateilnehmer sein Training einschränken muss, um einem regulären Job zu machen, damit er sich dieses teure Hobbie namens Training leisten kann?

Der menschliche Körper kann mit Hilfe der Wissenschaft und Fortschritten in Lauftechnik, Schuhdesign, Ernährung und mentale Stärke viel erreichen, doch es gibt natürliche Grenzen, die einfach irgendwann erreicht sind. Auch das Erkennen von Grenzen gehört zu Fortschritt und Wissenschaft – an einem gewissen Punkt, ist ein Weltrekord nicht mehr zu brechen. Doch in dem man bereits junge Menschen, Kinder, täglich trainiert, richtig ernährt, von Schädlichem abhält und mit Pharmaprodukten im Grenzbereich der Legalität „unterstützt“ können diese Kinder eine große Karriere haben – bis sie 20, höchstens 30 sind – je nach Sportart. Um dann mit kaputten Knien, Füßen und Psychen in Baumärkten Autogrammkarten unterschreiben.

Und weil ich das alles einfach nicht ausblenden kann, fällt es mir mittlerweile schwer, Profi-Sport wirklich zu genießen.

Clueless (Film 1995) Review – Komödie mit Beigeschmack, Moral und einem sexuellen Übergriff

Vor Kurzem habe ich nach vielen, vielen Jahren wieder den Klassiker „Clueless“ gesehen. Auch um meinem popkulturellem Bildungsauftrag meinem Partner gegenüber nachzukommen, an dem dieses Meisterwerk vorbei gegangen ist.

Wer den Film nicht kennt, sollte ihn sehen. Die Zusammenfassung bei den gängigen Online-Nachschlagewerken ist unterkühlt und kann den Zauber kaum wiedergeben. Auch um den Ursprung unzähliger, sich auf den Film beziehender Referenzen in der Pop-Kultur zu kennen und die junge Starbesetzung zu Karrierebeginn zu sehen, kann man sich den Film mal gönnen.

Vieles sieht man nach etwas Zeit und der Zunahme an persönlicher Weisheit (hoffentlich) anders. Ich war überrascht, wie progressiv dieser Film von 1995 auf mich wirkte. Und auch ein wenig, wie lange Probleme so bekannt sind, dass sie in „stumpfen Teeniekomödien“ thematisiert werden – und man sich fast 30 Jahre später (fast) auf der gleichen Stufe in der Debatte befindet.

Die Protagonistin hat schlechte Noten und entscheidet sich, neben Zusatzarbeiten, zwei Lehrkräfte zu verkuppeln. Durch die verbesserte Laune der Zwei soll auch die Bewertung positiver ausfallen. Was für eine menschenfreundliche Idee! Statt, wie oft cineastisch verarbeitet läuft sie nicht Amok, bedroht Lehrkräfte, versinkt in Hoffnungslosigkeit – sie erkennt, dass Menschen, Autoritäten, manchmal einen Mangel erfahren, der sie negativ beeinflusst, ihren Umgang mit Menschen, das Erfüllen von Aufgaben. Und dass Wertschätzung durch andere Menschen, die Liebe einer Beziehung, das Gefühl begehrt und gemocht zu werden auch es auch für „uncoole“ Erwachsene wichtig ist, das mehr hinter schlecht gelaunten Menschen steckt und man Abhilfe schaffen kann. Das ist eine ausgesprochen positive, liebevolle Botschaft.

Der „uncoole“ große Stiefbruder ist am Ende der Love Interest.  So sehr die Rolle so angelegt ist, dass der Zuschauer ihn sofort als intellektuellen, sympathischen Charakter einordnen soll (auch durch die Besetzung von Paul Rudd) – so klar macht die Protagonistin wie uncool und weit entfernt er von ihr ist. Und trotzdem finden sie sich – er sie, weil warmherzig, gutaussehend und ehrgeizig, fleißig – und sie ihn, weil er souverän, intelligent und stets ritterlich ihr gegenüber ist. Natürlich sind auch hier Klischees verarbeitet und alles nicht unproblematisch – doch das ist einen eigenen Text wert. Und im Großen und Ganzen wirkt diese Love Story ganz okay – kein hässliches Entlein, dass sich verwandelt, kein völliges Verraten der eigenen Identität sondern Annäherung durch Kennenlernen, Vorurteile abbauen, annähern – hier gibt es klare Überlegenheit gegenüber anderen, ähnlichen Filmschöpfungen.

Ein hässliches Entlein gibt es allerdings im Film – mit dem gut gemeinten „Make-Over“ verbessert sich der soziale Status des Mädchens, verschlechtert sich aber gleichzeitig die Beziehung, der Charakter wird negativ gezeichnet. Schließlich wird alles wieder gut, das Entlein ist wieder authentisch, aber selbstischerer und kommt mit ihrem Love Interest des Beginns zusammen, der als perfekter Partner für sie geschrieben wurde. Nicht neu, aber die Moral der Geschichte kann auch positiv bewertet werden.

Weitere positiv hervorzuhebende Punkte:

  • Als sich Cher für Menschen einer Naturkatastrophe engagieren will, spendet sie auch ihre Skier. Der Vater kommentiert dies, sie antwortet sinngemäß „aber Daddy, diese Menschen haben ALLES verloren“. Ja. Das haben sie. Und auch wenn Skier sicher nicht das erste sind, was man in dieser Notsituation braucht, finde ich es sinnvoll, dass man Dinge, die man nicht mehr braucht, an Menschen weitergibt, die sie brauchen können. Und die ihr Geld erstmal für andere Dinge ausgeben müssen, um sich wieder ein Zuhause aufzubauen.
  • Sie erkennt die harte Arbeit ihres Vaters, ihres Stiefbruders usw. an und unterstützt sie soweit möglich, freudig und eifrig.
  • Sie schämt sich für Fehler und versucht, sie wieder gut zu machen
  • Homosexualität kommt etwas verklausuliert und extrem Klischeebeladen vor, aber nicht immerhin kommts vor und wird nicht allzu negativ dargestellt (die lesbische, grobe Sportlehrerin)

Mit feministisch linksversifftem Blick auf den Film gibt’s (neben der mangelnden Konsumkritik, die ich dramaturgisch / künstlerisch durchgehen lasse) zwei problematische Bilder: Die Beziehung zwischen der besten Freundin der Protagonistin, Dionne, und ihrem Freund Murray und der Heimfahrts-Szene nach einer Party.

– Murray ist ein klassischer „Frauenheld“, flirtet viel, geht fremd. Als Dionne ihm mitteilt, dass sie nicht mehr „Weib“ von ihm genannt werden möchte, weil sie das abwertend findet, erklärt (mans-plained) er, dass das was Kulturelles sei und er damit weiter macht. In einer anderen Szene erzählt sie ihren Freundinnen, dass er „alles bekommt“ aber sie „technisch noch Jungfrau“ ist, weil ihr das wichtig sei. Ansonsten wird Dionne als meinungsstarke, selbstbewusste junge Frau dargestellt. Für ihn gibt es keine erkennbaren Einschränkungen/Umstellungen, die er für die Beziehung eingeht. Sein Verhalten wird nur von Dionne thematisiert.

Wow. Meine Kurzinterpretation: Selbst das toughste Mädchen lässt sich von ihrem Partner verbale Beleidigung gefallen, überschreitet persönliche Grenzen und baut Ausreden und Rechtfertigungen für Ihren Partner zurecht, versucht um fast jeden Preis ihren Partner sexuell zu befriedigen, damit er bei ihr bleibt. Und sie ist damit allein – niemand unterstützt sie, äußert ebenfalls Unmut über sein Verhalten. Denn „So ist er eben“ –  „boys will be boys“.

– Cher wird von Elton, einem Freund aus ihrer Clique heimgefahren, den sie mit jemandem verkuppeln wollte. Nach einigen Missverständnissen ist klar, dass er daran kein Interesse hat und Sie selbst seine „Wahl“ ist.

Sie sitzt in seinem Wagen, er bedrängt sie mehrfach, ignoriert ihre körperliche und verbale Ablehnung, sie steigt aus, kurzer Wortwechsl, er fährt weg und lässt sie vor Ort (ihr unbekannte, weit vom eigenen Viertel entfernte, „gruselig“ gezeichnete Gegend). Dann bedroht sie ein Mann mit Waffe und erbeutet ihren Tascheninhalt.

Sie ruft ihren Stiefbruder an, der sie ritterlich rettet und trotz Date mit seinem Wagen abholt, wie es das Drehbuch verlangt. Beziehungsweise der sich so verhält, wie jeder sich verhalten sollte, wenn ihn jemand in der Lage anruft.

Puh. Wieso hat nie jemand, dass ich mich daran erinnern könnte, über diese Szene gesprochen? Wieso wurde das von der Realität genauso ignoriert, wie es im Film ignoriert wurde? Es gab keine Konsequenz für Elton  – man sieht ihn im weiteren Verlauf des Films mit unterschiedlichen Mädchen im Hintergrund flirten. Und ich kann mir meinen Teil denken. Die Armen.

Aber warum? Wieso haben alle das gesehen, und keiner hat gesagt „Wow, ganz schön krasser Idiot “ Oder „Wow, sowas würd‘ ich mir nie gefallen lassen“? Einfach nichts. Weil das halt dazu gehört. Wie die Tipps, die man bekommt, wenn man die ersten Male ausgeht („Achte auf dein Getränk“, „Schrei Feuer nicht Hilfe“, „Den Schlüssel so zwischen die Finger nehmen, dass er eine Waffe ist“), gehört es dazu, dass man als weiblich wahrgenommener Mensch ungebetene „Angebote“ bekommt, die man ablehnt. Und das wird ignoriert. Und es eskaliert. Und in eigentlich fröhlichen Teeniefilmen kommt man davon, auch wegen der FSK und so. Und im echten Leben manchmal auch, und manchmal eben nicht. Und manchmal ist es wie im Film – die Typen machen ganz normal weiter und keiner sagt was.

Zumindest in diesem Aspekt ist Clueless sehr nah am Leben echter Teenager. Ein Übergriff eines guten Freundes gehört dazu, wie der Schulstress und die erste große Liebe.