Da ich seit 3 Jahren aus dem Job raus bin, weil man mit Panikanfällen und Depressionen nicht so gut arbeiten kann, hatte ich nun meinen ersten Gutachter Termin. Die Ämter und Rentenversicherung wollen gucken, ob und was ich noch kann für den kapitalistischen Traum.
Der Brief mit der Einladung kommt Dienstag an – Samstag morgens um 9:00h von der Groß- in die Kleinstadt zum Gutachterraum. Warum ein Samstag, warum nicht in der Nähe, warum nicht mit der üblichen Woche Vorlaufzeit – das sind Fragen, die man sich wahrscheinlich nicht nur als Autistin stellt, aber je länger man sich mit Behörden und Ämtern herumärgert, desto mehr merkt man, dass Fragen vielleicht berechtigt sind – aber völlig unerheblich.
Also werde ich von einem grauhaarigen Mann um die 1,70m begrüßt und in einem, mit allerlei freundlichem Nippes ausstaffierten Praxisraum platziert.
Man würde ihn wohl als offen, freundlich, zugewandt aber nicht „drüber“ beschreiben. Teile des Gesprächs werden, stückchenweise, von ihm auf das Diktiergerät gesprochen, andere Teile nicht.
Ein von ihm gesetzter, nicht unüblich ausgewählter Faden zieht sich durch den Termin – ich bin 1,90m groß, er ist ein eher kleiner Mann. Er hatte eine Studienkollegin, die extrem groß gewachsen war, ihn aber nicht auf Grund seiner Hotness daten wollte, sondern auf Grund seines Intellekts, auf den sie während des gemeinsamen Studiums aufmerksam geworden war.
Solche und andere Geschichten kenne ich gut. Sie werden gerne als bindungsförderndes Element genutzt, vor allem von Menschen, die auf den ersten Blick meinen, wenig mit mir anfangen zu können – aber die Größe ist ein offensichtliches, einfaches Thema. Und gleichzeitig, verwundert es mich, dass es für viele durchschnittlich gewachsene Menschen so emotional besetzt ist. Der Griff in die Anekdotenkiste „große Frauen meines Lebens“ erfolgt meist schnell im Kontakt mit Männern, die sich als zu klein empfinden. Das ist oft gar nicht so eng mit der tatsächlichen Körpergröße verknüpft, wie man denken würde.
Zwischen seinen Erzählungen aus der Studienzeit gehen wir meine Biografie durch, meinen Tagesablauf, meine Krankengeschichte, meine Familie. Ich berichtige ihn mehrfach bei seltsamen Dingen, von denen sich mir nicht erschließt, wie er darauf kommen kann. Meine Mutter hat immer gearbeitet und war nie „nur“ Hausfrau, ich war nie auf einer Sonderschule oder auffällig entwicklungsverzögert. Ich frage mich, was noch in den Akten steht, die er hat. Wer das geschrieben hat. Welche Entscheidungen bereits ohne mein Wissen auf Grund dessen gefallen sind.
Ein weiteres, wiederkehrendes Thema ist, dass ich keine Kinder will. Ich erkläre, dass ich zwei Stiefsöhne habe und das reicht. Dass ich mit meiner Krankheit wie sie sich darstellt und auswirkt, einem Kind nicht gewachsen wäre, es nicht versorgen könnte, wie es versorgt werden sollte, dass ich das auch genetisch nicht weitergeben möchte. Ich erkläre mich – weil er ein psychologisch geschulter Gutachter ist? Oder weil es immer so ist, eine gesellschaftliche Norm, ein repetitives Schauspiel: Ein Mensch – der gesellschaftlich über mir steht – ein älterer Mann, in einer Machtposition. Der eindeutig der Meinung ist, dass das nicht normal ist, nicht gesund, dass sich das ändern wird und sollte. Wenn ich nur die richtige Therapie gefunden habe. Sagt er.
Ich will ja nicht die große Feministin raushängen lassen, aber da fuck ?! Ich bin eine 33 Jährige Frau mit „starkem Karriereweg bis zum Einbruch“, wie er sagt – wieso wird mir die Kompetenz abgesprochen zu entscheiden, ob ich Kinder in die Welt setzen möchte? Das ist kein Phänomen von Leuten, die über meine Krankheiten und Behinderung Bescheid wissen. So gehen auch Menschen mit mir und anderen weiblich gelesenen Personen um, wenn sie davon ausgehen, dass wir kompetent und sorgenfrei sind. Ich kann Beziehungen führen, Auto fahren, Firmen gründen, auswandern, mich von Kopf bis Fuß grün tätowieren lassen – aber kinderlos sein ist eine Entscheidung, die ich nicht treffen sollte und kann. Gut, dass mir ein Mann, der mich 1 Stunde und 20 Minuten meines Lebens kennt und begleitet, das erklärt.
Die kleine Freud-Puppe im Regal scheint nicht nur ein nett gemeintes Geschenk eines Nachbarn gewesen zu sein, sondern ein bedachter Kauf, um einen Verweis auf die Aktualität seines Studienstands zu schaffen. Dieser Verdacht drängt sich mir zumindest auf, als er referiert, dass ich durch meinen abwesenden Vater nun einen Partner mit größerem Altersunterschied habe.
Boah, wie ermüdend. Das hätte mir das Psycho-Quiz einer beliebigen Frauenzeitschrift sicher auch gesagt. Das andere Faktoren (ich bin langweilig, er wild, Zufall, *beliebige 10-stellige Zahl von Gründen für Liebe und funktionierende Zwischenmenschliche Beziehungen bitte hier einsetzen*) eine Rolle spielen, dass es Korrelation und Kausalität gibt – egal. Alles Ausreden eines kleinen Mädchens, das keinen Daddy hatte. Bah ist mir schlecht. Es ist nicht nur, dass ich mich mit meinen Gefühlen und der von mir erlebten Realität nicht gesehen fühle – es wertet unsere Beziehung ab. Aber dazu schreibe ich mal einen eigenen Text.
Und dann ist da ja noch der Autismus. Ich erkläre ihm kurz, dass ich im noch Diagnoseprozess bei zwei Stellen bin, und bisher immer die Rückmeldung erhielt, sehr auffällig eindeutig Autismus zu haben. Nach etwas Recherche kam es mir wie der heilige Gral vor: Endlich wusste ich, was los war – endlich machte alles einen Sinn.
Der Gutachter sieht das anders. Und schon bin ich im gleichen Film, wie Millionen andere, autistische Menschen, vor allem denen, die eher unauffällig sind – oder Frauen. Es gibt zig Geschichten in Onlineforen zu dem, was sich nun abspielt: Die erste Phase ist das anekdotische Wissen. Ich erspare unnötige Details: Ein autistischer junger Mann hat wegen zu heißem Kaffee seine Jalousien während eines Termins zerstört. So sei ich ja nicht.
Ich habe mal ein langweiliges Buch von Stephen King gelesen. Und ich kannte mal einen drogendealenden Footballspieler mit Yorkshire-Terrier. Beides ist aber weder repräsentativ für weltweite Literatur noch für Drogendealer. Für eine Einordnung meines psychologischen Zustandes auf dem Niveau kann ich eine akkuratere Einschätzung von meiner örtlichen Bäckereifachverkäuferin erwarten, mit der die Gespräche nicht so in die Tiefe gingen.
Ja, ich kann sprechen. Ich kann vieles, was andere Autisten nicht können – und umgekehrt. Darum sagt man auch Autismus-Spektrums-Störung. Weil es ein Spektrum ist. Mein Spezialinteressen sind nicht Telefonbücher, ich mag keine Zahlen. Ich habe gelernt, Menschen möglichst viel anzuschauen. Ich habe gelernt, unauffällig zu stimmen. Ich kann an einem guten Tag sehr gut masken. Ich bin leider nicht Rainman – und entspreche damit nicht den 2% Savants bei Autisten, die die öffentliche Bildung eines Prototyps so stark beeinflussen. Für so etwas gibt es Genderstudies. Damit ich ein passendes Hüftgelenk bekomme und auf Grund von Daten analysiert, diagnostiziert und behandelt werde, die auch mit Frauen und nicht ausschließlich mit Männern erhoben wurden.
Und trotz all dem – es war ein guter Termin. Zumindest im Ablauf – was am Ende im Gutachten steht, bleibt abzuwarten.
Es war ein guter Termin. Auch wenn ein alter, weißer Mann in Machtposition in 1,5 Stunden einer jüngeren, suizidalen, mittellosen, geistig behinderten Frau erzählt, dass sie attraktiv ist, er eine ähnliche Freundin hatte, dass noch Hoffnung für ihn besteht, wenn ihr derzeitiger Partner auch kleiner ist als sie, dass ein Ablehnen der Fortpflanzung nicht normal ist und sie einen Daddy-Komplex hat und das der Grundstein, für ihre derzeitige, bald von Hochzeit gekrönter Beziehung ist.
Trotzdem war es ein guter, im Vergleich angenehmer und lockerer Termin. In was für einer scheiß Welt leben wir eigentlich?