Der Begriff „Cancel“ (-culture) wird, finde ich, mit unnötig viel Emotion aufgeladen. Man entscheidet sich einfach, nach in-Betracht-Ziehen aller vorliegenden Daten, gegen etwas. Dieser Entscheidungsprozess findet viele Male während des Supermarkteinkaufs statt – weswegen wird ein neues Wort gebraucht und die Debatte anders geführt, wenn es nicht die Wahl zwischen Brotsorten sondern Künstlern betrifft?
Ich war ein klassisches Fan-Girl von Marilyn Manson. Tatsächlich war es die einzige Band, von der ich alles an Informationen, Fotos und Videos verschlang. Poster, T-Shirts, Bücher, Masturbationsfantasien und die Alben auf Dauerschleife – alles, wie man es von den Backstreet-Boy-Fans kennt, nur in schwarzen Klamotten und ohne Kreischen.
Dieses Konstrukt hat mir damals sehr viel geben können. Diese Musik war für mich die erste, die die Überforderung und die Wut auf die Welt artikulieren konnte. Mit dem Beginn der Pubertät wurde klar, dass Disney eine Lüge war, und Marilyn Manson übersetzte mein zunehmendes Entsetzen in flotte Rockmusik mit ansprechender künstlerischer Ästhetik. Ich fühlte mich verstanden und gut aufgehoben bei diesen ungewöhnlich gekleideten Männern und gehe so weit zu sagen, dass es einen positiven Einfluss auf mich hatte.
Heute schwer vorstellbar, aber damals war das Image der USA bei mir, als junge Deutsche, noch deutlich positiver und von dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“- Singsang geprägt. Dass fünf, relativ junge, US-Amerikaner dieses perfekte Bild zum Kotzen fanden und nach einem Platz für Kritik und sich selbst fragten, fand ich beeindruckend und nun verständlich. Also begleiteten mich die Songs von meinem 12. Lebensjahr an. Liebeskummer, Egotrips, Weltschmerz, die 5 in Mathe – immer waren sie für mich da und luden zum Träumen, Stark-Sein oder ins Kissen-Weinen ein.
Mit dem Alter verlor sich das „Fan-Girl“, neue Bands kamen hinzu, das Leben ging weiter. Und ab und zu, wie der Griff zum Lieblingsbuch, zum ausgefranzten Lieblingsshirt, dem Heißhunger auf ein Gericht aus der Kindheit, hörte ich in die alten und neuen Sachen rein und las hier und da eine Überschrift oder einen Artikel zur neusten Tour oder dem Wechsel von Mitgliedern. Mit weniger emotionalem Engagement, aber mit dem liebevollen Blick, den man hat, wenn man auf Besuch im Heimatdorf sieht, dass das Schaufenster beim Bäcker immer noch, seit 30 Jahren, gleich aussieht. Mit einem kleinen, warmen Gefühl der Vertrautheit im Bauch.
So hätte es bleiben können. Aber dabei blieb es nicht. Auch wenn man nicht mehr „so im Thema war“, irgendwann stolperte ich über die Artikel. Suchte mehr davon. Und entschied mich, Marilyn Manson zu canceln. Die vielleicht längste Liebesbeziehung meines Lebens. Mein Zuhause, mein Zufluchtsort seit fast 20 Jahren sah plötzlich ganz anders aus, war klebrig und ganz anders düster, als ich es gewohnt war.
Das war eine gute Übung. Ein Teil von mir saß an der Seite, mit einem kleinen Notizblock, notierte mein Verhalten und lieferte gelegentlich Einwürfe und Verweise auf schlaue Dinge, während ich versuchte, sachlich und erwachsen mit der Situation umzugehen.
Brian Warner ist mehr als „nur“ der Frontmann einer Band namens Marilyn Manson – das Konzept und die Marke sind, für mich, viel mehr mit seiner Person verknüpft als mit dem Konstrukt „Musikgruppe“ – anders, als es bei zum Beispiel bei Blink-182 der Fall ist, die immer mehr als Band wahrnehmbar waren. Damit möchte ich nicht den musikalischen Einfluss der Bandmitglieder kleinreden, sondern die Kunstfigur und Marke betonen, die bei Marilyn Manson größer und präsenter sind.
Marilyn Manson hat mit Mitte Dreißig Minderjährige kontaktiert, belästigt („grooming“) und misshandelt. Er hat (grade volljährige) Frauen misshandelt. Mehrere.
Ich wähle den Terminus „Misshandelt“ weil ich mich nicht in Details verlieren will. Ob er sie nun eingesperrt, mit Schlafentzug gequält, mit Gegenständen beworfen, unter Drogen gesetzt, sexuell missbraucht hat, wie oft und in welcher Reihenfolge ist am Ende nicht erheblich. Dass er eine Minderjährige zum Zweck einer Beziehung kontaktiert hat, sehe ich als erwiesen. Ich habe kein Interesse an Diskussionen, ob jedes Detail denn so richtig sei. Für mich sind die Aussagen glaubwürdig – Inhalt, Übereinstimmung, Menge – eine Welt brach für mich zusammen.
So oft habe ich Marilyn Manson in meiner Jugend vor „Erwachsenen“ gerechtfertigt, seine Kunst erklärt. Und nun sitze ich mit Anfang 30 vor dem Laptop und finde nichts, was ich dazu sagen könnte. Das ist erleichternd. In der Selbstreflektion heißt das, ich gehöre nicht zu den Menschen, die alles, was sie gut finden, um jeden Preis verteidigen. Aber was mache ich nun?
Ich versuch mich schlau zu machen. Kunstwerk von Künstler trennen. Fühlst du Picassos Bilder nicht trotz allem? Sind Gandhis Errungenschaften nicht trotzdem wichtig?
Ich höre mich durch die Alben. Die Beziehung, die Bilder, das Gefühl zu einigen Liedern scheint in Stein gemeißelt, der bröckelt. Das vom Helden enttäuschte Kind in mir ist unzufrieden. Es bombardiert mich mit anderen Entscheidungen – du findest Nestlé scheiße und kaufst kein Flaschenwasser, aber hörst Musik von einem gewalttätigen Misshandler? Das hat er geschrieben, während er Frauen gefoltert hat.
Wie eklig. Ein Gefühl, was Manson musikalisch für mich immer wie kein Zweiter vermitteln konnte, war dieses bis zur Wut verzweifelte Sehnen in der Stimme, wie ein kriechendes, sich mit Fingernägeln an den Bodendielen vorziehendes Gefühl (Musiktipp: „I put a spell on you“ Cover).
Ich kann es nicht mehr hören. Während ich schreibe, habe ich es versucht. Ich kann es nicht mehr. Es ist widerlich. Vor allem die Songs mit Liebe und Verlust und sowas. Die Bedeutung ist im Licht meines neuen Wissens völlig verändert. Ich habe mich offensichtlich total getäuscht. Der Inhalt, den ich dem Lied gegeben habe, war mein eigener. Ich wurde nicht verstanden. Ich habe ihn missverstanden.
Das fühlt sich ganz schön scheiße an. Kurt Cobain ist tot, aber dafür kann der auch keine Frauen mehr vergewaltigen. Da ist man aus Fan-Sicht auf der sichereren Seite.
Was kann ich also tun, als Mensch, der möglichst vernünftig sein möchte?
Ich habe meinem näheren Umfeld davon erzählt. Ich möchte da, wo es für mich machbar ist, bewusste Konsum-Entscheidungen treffen. Und keinen Scheiß-Mini-Cent an jemand geben, der Dinge tut, die ich missbillige, wo es sich einrichten lässt. Nach und nach habe ich alle Manson-Songs aus meinem Musik-Streaming entfernt. Die alten Alben habe ich tatsächlich als CD – meine Bezahlung an beteiligte Künstler/ Bandkollegen für die tolle Musik wurde geleistet. Ich muss und möchte nicht weiterhin, und seien es nur lächerliche Beträge, Geld an einen Mann geben, der Beziehungen mit Kindern anbahnt.
Noch immer, wer weiß, wie lange noch, fühle ich mich bereit, über den Einfluss von Marilyn Manson auf die damalige Popkultur zu diskutieren und dort sein Werk und Beitrag zum Diskurs wohlwollend einzuordnen. In diesem Punkt bin ich bereit, Kunstwerk und Künstler zu trennen, da ich mich auf die, zu der Zeit vorliegenden Fakten stützen kann. Aber so, wie ich mich entscheiden kann, ob ich bei einem Großkonzern oder dem Laden um die Ecke Pizza bestelle, kann ich entscheiden, keine Musik von Männern zu hören, die Frauen misshandeln.
Wenn ich einen, für mich so wichtigen und raumgreifenden Teil in meinem Leben „canceln“ kann, frage ich mich, weswegen es Anderen bei geringeren Einsätzen so viel schwerer fällt.
Mein Tipp fürs Gewissen: Musik gecancelter Künstler*Innen einfach auf dem Flohmarkt oder im Second-Hand-Plattenladen kaufen (wenn man die Musik noch hören will und kann), dann gibt’s zumindest keinen Beitrag bei Abo- und Klickzahlen.